Mittwoch, 24. September 2014

"URINIERT IN DEN STIEFELN": NIETZSCHE IM IRRENHAUS

In Turin kommt es immer wieder vor, daß NIETZSCHE auf offener Straße eine halbe Stunde lang grinst (keine leichte Übung nach meinem Dafürhalten; wer es nicht glaubt, möge es einmal selbst versuchen). Dezember 1888 umarmt er auf der Piazza ein Pferd, weil er glaubte, es sei mißhandelt worden.
NIETZSCHE haust in schäbigen Absteigen und leidet an allen möglichen Gebrechen: bohrende Migräne, Erbrechen mit Blut, Fieber, Schüttelfrost, Hämorriden, gereizte Nerven, Schlaflosigkeit ("Kleingewehrfeuer" seiner Leiden); er nimmt Chloralhydrat, um schlafen zu können. In seinem Kopf geht es drunter und drüber; seine Gedanken feiern Orgien. Schließlich bringt ihn sein Freund OVERBECK nach Basel ins Tollhaus. Das Wetter ist nicht gut. Es ist naßkalt.
NIETZSCHE, jedoch ganz beschwingt: "Ich will euch, ihr guten Leute, morgen das herrlichste Wetter machen...". Er singt und jauchzt den ganzen Tag. Seine Mutter bringt ihn in die Irrenanstalt von Jena. Dort angekommen, verbeugt er sich immer wieder höflich, redet in selbstbewußter und affektierter Weise, mal italienisch, mal französisch. Den Ärzten will er andauernd die Hände schütteln. Ständig verlangt er nach Frauenzimmern. Er trägt eine Anstaltsmütze, die er über alles liebt. Niemand darf sie ihm wegnehmen.
Er macht lauter verrückte Sachen: Uriniert in den Stiefeln, trinkt Urin, ißt Kot, sieht nachts "ganz verrückte
Weibchen", glaubt, daß einmal "24 Huren bei ihm gewesen" seien, außerdem knurrt er beim Sprechen, macht Bocksprünge, schneidet Grimassen und hält den Oberaufseher für Bismarck. Da NIETZSCHE ein gutmütiger Irrer ist, darf ihn die Mutter nach Naumburg mitnehmen, wo ihre Tochter Dezember 1890 aus Uruguay eintrifft. Dort fungierte sie in einer Kolonie als "Königin von Neugermanien". Betrogene Kolonisten zwangen sie jedoch abzudanken! Wie undankbar, diese Untertanen! Als sie ankommt, steht NIETZSCHE am Arm der Mutter. Sein Blick ist starr, er hält sich gerade wie ein Gardeoffizier und erzählt in bester Laune von seinem Leben in der Armee.
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Quelle: "Stern" 37, 2000, S. 206 ff.


Weibchen"

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